Unsere Kinder gehören uns nicht

Der Bundestag hat heute in erster Lesung über den Gesetzentwurf zur Beschneidung debattiert. In seiner Rede begründet Raju Sharma mit den Worten des libanesischen Dichters und Philosophen Khalil Gibran warum er den Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht mittragen kann: Unsere Kinder gehören uns nicht. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt, wie bei vielen Fraktionen hier, auch in unserer Fraktion unterschiedliche Auffassungen zum Thema Beschneidung. In einer Sache sind wir uns einig ‑ ich habe die Debattenbeiträge so verstanden, dass das eigentlich für das ganze Haus gilt ‑, nämlich darin, dass wir das jüdische und muslimische Leben in Deutschland schätzen und achten. Wir betrachten es als eine kulturelle Bereicherung unserer Gesellschaft. Daran führt kein Weg vorbei.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich kann hinzufügen, dass ich kein Jude, kein Moslem und auch kein Christ bin; aber ich bin dankbar für jeden Menschen in Deutschland, der den Menschen nicht als Mittelpunkt des Universums betrachtet.

Gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden in Schleswig-Holstein habe ich dafür gekämpft, dass die Synagogen in Kiel, Flensburg und Lübeck vor Übergriffen von Rechtsextremen bzw. Nazis geschützt und gesichert werden. Ich habe in Schleswig-Holstein zwischen den Moscheevereinen und den Anwohnern vermitteln dürfen, als es darum ging, wie laut der Muezzin zum Gebet rufen darf. Ich durfte an den Freitagsgebeten in den Moscheen teilnehmen. An hohen jüdischen Festen durfte ich teilnehmen und habe die Gastfreundschaft in Synagogen genossen. Die Gastfreundschaft meiner Gastgeber ging so weit, dass sie Wert darauf gelegt haben, dass ich nicht nur koscheres, sondern auch vegetarisches Essen bekam. Ich weiß um die Toleranz und die Gastfreundlichkeit von Juden und Muslimen, und ich weiß sie sehr zu schätzen.

Als in diesem Sommer das Kölner Urteil kam, haben mich meine Freunde gefragt: Willst nicht auch du eine Solidaritätsadresse abgeben bzw. eine Erklärung, damit wir uns gegen dieses Urteil verwahren können? Ich bin in mich gegangen, habe das Urteil studiert und mich mit Ärzten ‑ Kinderärzten, Chirurgen, Anästhesisten und Urologen ‑ beraten. Danach musste ich schweren Herzens sagen: Nein, ich kann euch da leider nicht unterstützen, weil ich finde, dass das Urteil abgewogen, nachvollziehbar und in der Sache richtig ist.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der Staat hat nicht die Aufgabe, die Religionsausübung zu gestalten und Vorgaben zu machen. Er hat aber die Aufgabe, Interessen abzuwägen und einen Rahmen vorzugeben, in dem sich alle in dieser Gesellschaft bewegen müssen. Wenn wir anfangen, Sonderrechte für diese oder für jene Religionsgemeinschaft zu schaffen, sind wir auf einer schiefen Bahn. Dann gibt es auch keine Unteilbarkeit von Menschenrechten bzw. von allen Rechten. Das aber ist genau das, was wir brauchen. Religionsfreiheit ist wie jede Freiheit in einem demokratischen Staat nie grenzenlos. Sie findet ihre Schranken dort, wo die Rechte bzw. die schutzwürdigen Interessen anderer beeinträchtigt werden. Genau das ist hier der Fall. Das Landgericht Köln hat dies auch richtig festgestellt.

Wir hätten eine ruhige, ausgewogene und sachliche Debatte gebraucht mit einer Offenheit, wie sie zum Beispiel der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, an den Tag gelegt hat, als er sehr offen, ohne die Position seiner Religionsgemeinschaft aufzugeben, gesagt hat: Wir haben so vieles über Bord geworfen, was in der Thora steht. Wir können und müssen auch über diese Frage reden. ‑ Vor allem die Religionsgemeinschaften müssen darüber reden; aber auch der Staat muss seiner Aufgabe gerecht werden.

Was hat der Staat gemacht? Ich hätte von der Bundeskanzlerin, die ansonsten nicht für Hyperaktivität bekannt ist, erwartet, dass sie hier mit ruhiger Hand versucht, zu mäßigen, auszugleichen und die unterschiedlichen Interessen darzulegen. Das hat sie nicht getan. Frau Merkel hat hier davor gewarnt, dass wir zu einer Komiker-Nation werden. Dazu sage ich: Die Komiker-Nation Deutschland hat vor 20 Jahren auch die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Die Ratifizierungsurkunde zu dieser Kinderrechtskonvention trägt die Unterschrift unserer Bundeskanzlerin. Da frage ich mich natürlich auch ‑ ich hätte gerne Frau Merkel gefragt, wenn sie denn hier gewesen wäre ‑, was ihre Unterschrift eigentlich wert ist. Hat das alles keine Bedeutung?

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die UN-Kinderrechtskonvention wird wie viele Gesetze, die wir hier im Bundestag beschlossen haben ‑ allerdings nicht mehr einstimmig; oft war die CDU/CSU dagegen ‑, von dem Gedanken getragen, dass die Kinder nicht nur reine Erziehungsobjekte ihrer Eltern, sondern Träger eigener Rechte und zu schützen sind. Ich möchte es mit den Worten des libanesischen Dichters und Philosophen Khalil Gibran sagen:

Unsere Kinder gehören uns nicht. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.

Diesen Gedanken haben wir mittlerweile in vielen Rechtsordnungen verankert, auch im BGB. Die Kinderrechte wurden im Laufe der Jahre gestärkt.

Ich hätte mir gewünscht, die Bundesregierung wäre bei ihrem Gesetzentwurf nach ruhiger Abwägung zu der Auffassung gekommen, dass wir auch die Kinderrechte schützen müssen. Das hat sie aber nicht gemacht. Sie haben die Regelung zwar richtigerweise im Recht der Personensorge verankert - dort muss es geregelt werden -, aber überhastet und leichtfertig. Sie haben nicht ein Recht geschaffen, mit dem wir alle leben können und mit dem auch Kinderrechte geschützt werden. Sie haben übrigens auch nicht die Betroffenen gehört. Es wäre das Mindeste gewesen, diejenigen, die heute unter den Folgen einer Beschneidung leiden, in die sie als Kinder nicht einwilligen konnten oder durften, anzuhören. Das haben Sie nicht zugelassen.

Uns liegt ein alternativer Gesetzentwurf vor. Ich danke den Verantwortlichen aus der Kinderschutzkommission und den kinderschutzpolitischen Sprecherinnen der Grünen, der Linken und der SPD, dass sie diesen Gesetzentwurf eingebracht haben. Er ermöglicht es uns, nicht nur Nein zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zu sagen, sondern er bietet auch eine Alternative, zu der wir Ja sagen können, weil hier sorgfältig abgewogen wird: die Religionsfreiheit auf der einen Seite und die Kinderrechte auf der anderen Seite. In diesem Gesetzentwurf steht: Es ist keine Beschneidung zulässig bei einem Kind unter 14 Jahren. Der Betroffene muss selbst einwilligen. Die Beschneidung muss von einem Facharzt oder einer Fachärztin vorgenommen werden, und das Kindeswohl muss betrachtet werden. ‑ Diese Abwägung brauchen wir, wenn wir zu einem sachgerechten Gesetzentwurf kommen wollen. Ich bin dankbar, dass es diesen Gesetzentwurf gibt, und werbe nachhaltig dafür, dass wir uns diesem Gesetzentwurf anschließen.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)