Gretchenfrage für die LINKE

Die Partei DIE LINKE hat mit der Debatte um ihr Grundsatzprogramm begonnen, das sie im Herbst 2011 beschließen will. Ein erster Höhepunkt dieser Debatte soll ein bundesweiter Programmkonvent am 7. November dieses Jahres in Hannover sein. ND begleitet die Debatte mit einer Artikelserie. Heute: Raju Sharma vermisst eine aussagekräftige Positionierung zur Frage der Religion im Programmentwurf der LINKEN. Der Jurist, Bundestagsabgeordnete und Bundesschatzmeister seiner Partei streitet für eine konsequente Umsetzung des laizistischen Prinzips, der Trennung von Staat und Kirche, das wirkliche Religionsfreiheit erst ermögliche.

Nun sag, Genosse, wie hältst du's mit der Religion? Gerade für uns LINKE eine elementare und wichtige Frage – eine aussagekräftige Antwort darauf enthält der Programmentwurf leider nicht. Neun Zeilen kurz ist der Absatz, der sich dem Thema »Kirchen und Religionsgemeinschaften« widmet; neun Zeilen, die nebulös und schwammig bleiben. Dabei gibt es eine Vielzahl an Fragen, die konkreter Antworten bedürfen: Soll die Kirchensteuer abgeschafft oder beibehalten werden? Soll in den Schulen konfessioneller Religionsunterricht als Pflichtfach angeboten werden oder als freiwilliges Zusatzfach? Kann Gott in der Präambel des Grundgesetzes toleriert werden oder gehört der Gottesbezug gestrichen? »Staat und Kirche sind getrennt« heißt es im Entwurf. Was also folgt daraus?

Nicht viel, bisher. Nicht nur im Entwurf, auch in unserer politischen Arbeit hat die LINKE nur wenig dafür getan, damit das laizistische Prinzip konsequent umgesetzt wird. Die Zurückhaltung mag damit zu tun haben, dass DIE LINKE zu Recht bemüht ist, das Vertrauen der Religionsgemeinschaften zurückzugewinnen, das durch die SED und das durch sie begangene Unrecht an Kirchen und Gläubigen zerstört wurde. Als Rechtsnachfolgerin der SED müssen wir uns mit dieser Schuld auseinandersetzen und glaubhaft machen, dass wir heute jede Form des Glaubens respektieren und unterstützen. Bereits 1990 hat der Parteivorstand der PDS die Wichtigkeit des Themas erkannt und sich eindeutig zu Religionen und Kirchen positioniert. In einem Beschluss vom 15. März heißt es: »Wenn wir um das Gespräch bitten, um Vertrauen werben und gemeinsames Handeln wollen, geschieht das im Wissen um unsere Mitverantwortung an einer verfehlten Politik der SED, die tragische Schicksale, Benachteiligung, Verdächtigung und ohnmächtige Betroffenheit auslöste. Wir bekennen uns zur Mitschuld an der bisherigen Politik und bitten die Gläubigen, die Kirchen und Religionsgemeinschaften um Versöhnung«.

Wie berechtigt deshalb Vorsicht und Sensibilität im Umgang mit Religionsgemeinschaften auch sind – die Trennung von Staat und Kirche und die daraus resultierenden Forderungen müssen unser erklärtes Ziel sein. Die Kunst liegt darin, deutlich zu machen, dass das laizistische Prinzip der Religionsfreiheit nicht zuwiderläuft – im Gegenteil. Erst, wenn sich der Staat aus dem Glauben konsequent heraushält und kein Bekenntnis bevorzugt, kann Religionsfreiheit diskriminierungsfrei gelebt werden.

In der bundesdeutschen Wirklichkeit kann davon aber nicht die Rede sein. Der christlichen Religion wird gegenüber anderen Glaubensgemeinschaften ein Vorrang eingeräumt, und es ist durchaus nicht gesellschaftlicher Common Sense, dass daran etwas geändert werden soll. Denn vermutlich sehen nicht nur CDU-Anhänger im Christentum viel mehr als eine Religion: nämlich den Grundstein der westlichen Kultur. Dass vor diesem Hintergrund eine konsequente Gleichbehandlung beispielsweise mit dem Islam bei einer Mehrheit wohl nicht unbedingt auf Gegenliebe stoßen würde, hat die Debatte um die unsäglichen Sarrazin-Thesen erst jetzt wieder überdeutlich gemacht.

Auch dieser Frage muss sich DIE LINKE stellen: Sind wir uns einig, dass wir als Fundament der für uns alle gültigen Werte den Humanismus sehen, oder beziehen wir uns auch auf das Christentum? Nur wenn ersteres der Fall ist, werden wir den Bereich des Schwammigen verlassen. Erst dann werden wir überzeugend für die Trennung von Staat und Religion eintreten und Worten auch Taten folgen lassen.

Zu tun gibt es genug: Ein wichtiges Thema ist die Kirchenfinanzierung. Ist es akzeptabel, dass der Staat für die katholische und die evangelische Kirche die Kirchensteuer einzieht? Oder sollten alle Religionsgemeinschaften ihre Mitgliedsbeiträge selbst eintreiben – wie jede andere nichtstaatliche Organisation auch? Vielleicht geht es aber auch ganz anders – wie zum Beispiel in Italien und in Spanien: Dort kann der Steuerpflichtige wählen, ob seine Steuergelder der Kirche oder einer sozialen Einrichtung zufließen sollen. Wie auch immer wir uns positionieren – eine Debatte darüber muss geführt und am Ende eine Entscheidung getroffen werden.

Problematisch im Bereich der Finanzierung ist aber nicht nur die Kirchensteuer. Die katholische und evangelische Kirche erhalten eine weitere, wenig bekannte Unterstützung aus allgemeinen Steuermitteln: die sogenannten »Staatsleistungen«. Sie beruhen auf einem Beschluss aus dem Jahr 1803, der für Enteignungen der Kirchen zugunsten weltlicher Herrscher Entschädigungen vorsah: Als Ausgleich für die säkularisierten Kirchengüter wurden die Sachmittel und Gehälter der Geistlichen bezahlt sowie die kirchlichen Baulasten getragen. Und das ist auch heute, 200 Jahre später, nicht anders. Fast eine halbe Milliarde Euro geben die Länder jährlich aus. Und das, obwohl die Zahlungen längst abgegolten sein sollten. Die Bundesregierung ist laut Grundgesetz nämlich dazu verpflichtet, ein Bundesgesetz zu erlassen, das die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen auf Länderebene regelt. Die schwarz-gelbe Koalition aber sieht keinen Handlungsbedarf, wie sie mich auf Anfrage wissen ließ: »In den neueren Kirchenverträgen der Länder sind die Staatsleistungen einvernehmlich neu und in vereinfachter Form geregelt. Insoweit wird für den Bundesgesetzgeber kein Handlungsbedarf gesehen.«

Tatsächlich steht die Bundesregierung mit ihrer Handlungsunlust nicht allein – bereits in der Weimarer Reichsverfassung war der Verfassungsauftrag zur Ablösung formuliert. Aber keine deutsche Regierung sah sich bis heute veranlasst, die Staatsleistungen einzustellen. Zu groß war und ist offenbar die Angst bei allen Parteien, es sich mit den mächtigen Kirchen zu verscherzen. Anders ist nicht zu erklären, warum es auch von keiner Oppositionspartei jemals einen ernsthaften Vorstoß zur Ablösung der Staatsleistungen gab.

Ich möchte das gern ändern. Mit einem Gesetzentwurf zur Ablösung möchte ich, dass wir LINKE zeigen, dass wir es ernst meinen mit der Trennung von Staat und Kirche – ohne zu poltern und ohne das Gefühl zu vermitteln, dass wir die Kirchen angreifen wollen. Natürlich ist das nicht leicht, und es ist viel Fingerspitzengefühl dazu notwendig, aber es ist möglich. Von verschiedenen Kirchenvertretern wurde mir bereits Gesprächsbereitschaft signalisiert.

Auch unter manchen Landespolitikern sind die Staatsleistungen kein Tabuthema mehr. Zum Beispiel in Schleswig-Holstein. Dort strebt die schwarz-gelbe Landesregierung eine Kürzung der Zahlungen um zehn bis fünfzehn Prozent an. Wolfgang Kubicki, FDP-Chef im schleswig-holsteinischen Landtag, tritt sogar für eine Ablösung der Staatsleistungen ein. Er beruft sich auf einen Beschluss seiner Partei aus dem Jahr 1974, der die Ablösung durch eine Einmalzahlung vorsah und bis heute Bestand habe. Auch in Niedersachsen, im Saarland und in Brandenburg stehen die Staatsleistungen auf dem Prüfstand. Wie erfolgreich die Länder in ihren Bemühungen sein werden, solange es kein Bundesgesetz gibt, ist jedoch fraglich. Die Verpflichtungen beruhen auf Verträgen und Konkordaten, die in vielen Fällen »Ewigkeitsklauseln« enthalten oder einseitig kaum kündbar sind. Vor allem aber besteht unter den meisten Verfassungsrechtlern die Auffassung, dass die Länder erst dann tätig werden dürfen, wenn der Bund seinem Auftrag nachgekommen ist und ein Gesetz zur Ablösung nach einheitlichen Grundsätzen verabschiedet hat.

Diese Grundsätze könnten so aussehen: Zur Ablösung der Staatsleistungen gewähren die Länder den Kirchen eine einmalige Entschädigungszahlung, die auch in Raten gezahlt werden kann. Als Entschädigungssumme wird das Zehnfache des Jahresbetrages festgesetzt, der zur Zeit des Inkrafttreten des Gesetzes gezahlt wurde. Die Summe wäre ein Kompromiss zwischen der teilweise vertretenen Meinung, dass das Zwanzigfache angemessen sei, und andererseits der Auffassung, nach der die staatlichen Leistungen bereits abgegolten und die Zahlungen ersatzlos einzustellen sind. Bei Ratenzahlung darf die Hälfte des bisher gezahlten Jahresbetrags nicht unterschritten werden – die Zahlungen wären also spätestens nach zwanzig Jahren abgegolten und die Länder hätten einen großen Spielraum, um eigene, an den jeweiligen Haushaltserfordernissen orientierte Ablösungsregelungen zu treffen, die sie gegebenenfalls auch mit den betroffenen Kirchen abstimmen und aushandeln können.

Die Einstellung der Zahlungen würde die Kirchen zudem nicht wirklich hart treffen – schließlich sind sie finanziell ausgesprochen gut ausgestattet: Kirchenrechtsexperte Carsten Frerk hat ermittelt, dass das Gesamtvermögen der beiden großen Kirchen fast 500 Milliarden Euro beträgt. Allein durch die Kirchensteuer nahmen die evangelische Kirche im Jahr 2008 4,5 Milliarden Euro ein, die katholische Kirche 5,2 Milliarden. Auch muss nicht befürchtet werden, dass die Kirche als Träger sozialer Einrichtungen unter dem Verlust der Staatsleistungen leiden würde: wie jeder andere Träger werden die Kosten hierfür vom Staat zum Großteil übernommen – ganz unabhängig von den in Frage stehenden Staatsleistungen.

Ich bin gespannt, wie der Gesetzentwurf innerhalb der Fraktionen im Bundestag und in den Landtagen diskutiert wird – und ich hoffe, dass es dabei auch um die grundsätzlichen Fragen gehen wird. Die Klärung unserer Haltung ist notwendig, denn sie wird bei jeder neuen parlamentarischen Initiative zu Religion und Kirche erneut eine Rolle spielen.

Wie steht es zum Beispiel um § 166 StGB, den »Gotteslästerungsparagraphen«? Ich würde ihn gern abgeschafft sehen. Für mich macht es keinen Sinn, Religionsgemeinschaften in höherem Maße zu schützen als andere Gruppen wie etwa Gewerkschaften, politische Strömungen oder ethnische Gruppen. Auch hierzu erarbeite ich derzeit einen Gesetzentwurf – aber ich kann nicht sicher sein, dass die Mehrheit der Partei meine Ansicht teilt. »DIE LINKE achtet die Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihren besonderen Auftrag und ihre Unabhängigkeit«, heißt es im Entwurf. Könnte mein Vorhaben zur Abschaffung des § 166 StGB als »Missachtung« der Religionsgemeinschaften und ihres »besonderen Auftrags« missverstanden werden?

Und es gibt eine Vielzahl weiterer Fragen, zu denen wir keine erkennbare Position entwickelt haben. Halten wir es für richtig, dass die Taufe eines minderjährigen Kindes die rechtsverbindliche und kostenpflichtige Mitgliedschaft in der Kirche zur Folge hat und der Kirchenaustritt in vielen Ländern gebührenpflichtig ist? Ist es mit dem Grundgesetz vereinbar, dass die Bayerische Verfassung als Bildungsziel die »Ehrfurcht vor Gott« formuliert? Wie reagieren wir, wenn trotz anders lautender Gerichtsentscheidungen Kruzifixe weiterhin in öffentlichen Gebäuden an den Wänden hängen? Entspricht es unserem Verständnis von Glauben, wenn Geistliche beamtenrechtliche Sonderprivilegien genießen und Richter ihre Staatstreue mit einer religiösen Vereidigungsformel unter Beweis stellen dürfen?

DIE LINKE braucht eine klare Haltung, wie sie zur Religion steht – wie ernst es ihr ist mit der Trennung von Staat und Kirche, mit einer konsequenten Gleichbehandlung aller Glaubensrichtungen inklusive des Nichtglaubens, mit dem Bekenntnis zum Humanismus als Grundlage unserer Gesellschaft. Im Entwurf ist diese Klarheit bisher nicht zu finden.