Minderheitenvotum von Raju Sharma zum Programmentwurf der LINKEN nach der Beratung des Parteivorstands am 21./22. Mai 2011

Aufgrund der vielen Rückmeldungen wurden einige wichtige Punkte in den Programmentwurf aufgenommen, die bisher fehlten bzw. nur unzureichend behandelt wurden: Die Ausführungen zum Arbeitsbegriff, zumsozialökologischen Wandel, die Diskussion eines Bedingungslosen Grundeinkommens, die feministische Perspektive stellen inhaltliche Verbesserungen am Entwurf dar.

Allerdings hat der Parteivorstand die - richtige - Aufnahme von bisher fehlenden Themen nicht mit einer neuen Prioritätensetzung verbunden, so dass der Programmentwurf nunmehr noch länger geworden ist. Ungeachtet dessen, werden manche Themen immer noch unzureichend beleuchtet: Aussagen zur Verantwortung für einen fairen globalen Ausgleich zwischen den Interessen des Nordens und des Südens, zur Diskussion um eine mögliche Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme und zu den Perspektiven eines Öffentlichen Beschäftigungssektors als drittem Sektor zur Verrichtung gesellschaftlich wertvoller Arbeit finden sich nach wie vor gar nicht oder allenfalls marginal im Programmentwurf wieder.Die Analyse der Welt, in der wir leben, ist nach wie vor rein ökonomisch hergeleitet und terminologisch mit einem Klassenbegriff aus dem 19. Jahrhundert untersetzt. Die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Hinblick auf Individualität, Partizipation, Kultur, (neue) Medien usw. bleiben in weiten Teilen unreflektiert. In der Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe der LINKEN fehlt immer noch ein klares Bekenntnis zur Verantwortung für das in der DDR begangene Unrecht an Kirchen und Gläubigen. Der zum Gründungskonsens der PDS gehörende "unwiderrufliche Bruch mit dem Stalinismus als System" wird - historisch unzureichend - auf den "Bruch mit dem Stalinismus" reduziert; damit fehlt die seinerzeit auch auf die Zukunft gerichtete ausdrückliche klare Absage an alle repressiven und undemokratischen Diskussions- und Entscheidungsstrukturen.Die Auseinandersetzung mit den Gefährdungen der Demokratie durch Rechtsextreme wird im Programmentwurf nunmehr auf die Erscheinungsformen des "Faschismus" und des "Neofaschismus" beschränkt; Rechtsextremismus findet im überarbeiteten Programmentwurf nicht mehr statt. Durch die Auflistung zahlreicher "Reformprojekte" mit zum Teil absehbar geringer Halbwertzeit trägt das Programm eher den Charakter eines Wahlprogramms statt den eines Grundsatzprogramms mit längerfristigen Zielbeschreibungen. Ein Beispiel für die Problematik geringer Halbwertzeiten: Seit einigen Wochen gibt es in Deutschland eine breite öffentliche Diskussion über die Forderung von Unternehmensverbänden und Wirtschaftsinstituten, das gesetzliche Renteneintrittsalter auf 69 zu erhöhen.

Im derzeitigen Programmentwurf jedoch wird noch die "Rente erst ab 67" abgelehnt. Nach wie vor enthält der Programmentwurf "Haltelinien" für die Entscheidung über mögliche Regierungsbeteiligungen. Hier legt der Entwurf - auch in der modifizierten Form - auf der Grundlage heutiger Probleme und strategischer Schwerpunktsetzungen den Mitgliedern und Gremien von Landesverbänden, die zukünftig über diese Fragen zu entscheiden haben, programmatische Fesseln an, die zum Zeitpunkt der konkreten Entscheidung ggf. nicht mehr der eigenen politischen Zielsetzung entsprechen und in der Konsequenz zu einem nachhaltigen Verlust der politischen Glaubwürdigkeit führen würden.

Über lange Zeit war die Programmdebatte in der LINKEN von dem Versuch gekennzeichnet, "programmatische Anschläge" auf den ersten ("offiziellen") Entwurf abzuwehren. Nachdem dies aufgrund der massiven Kritik und zahlreichen Änderungsvorschlägen nicht mehr möglich war, hat die Redaktionskommission einen Vorschlag vorgelegt, der sichtlich von dem Bemühen getragen war, durch Kompromissformulierungen einen weitgehenden Konsens zu ermöglichen. Zum Teil gab es jedoch für diese Kompromisse von vornherein zu wenig substanzielle Übereinstimmung; zum Teil wurden erzielte Kompromisse aber auch von einer Mehrheit im Parteivorstand wieder aufgekündigt. So ist dieser Programmentwurf für mich nicht zustimmungsfähig. Ich habe dagegen gestimmt.
Raju Sharma, Berlin, den 22. Mai 2011