… und der Zukunft zugewandt (ein Beitrag zur Programmdebatte der LINKEN)

Seit die Programmkommission der LINKEN im März 2010 ihren Entwurf für ein Parteiprogramm vorgelegt hat, besteht zumindest in einem Punkt ein breiter Konsens über alle innerparteilichen Strömungen und Gruppierungen hinweg: Es ist gut, dass es nach den vorangegangenen langen, intensiven und oft auch kontroversen Beratungen gelungen ist, überhaupt einen Entwurf vorzulegen. Diese Freude kann man teilen, denn erst dadurch war es möglich, die gesamte Mitgliedschaft und die interessierte Öffentlichkeit in eine Debatte einzubeziehen. Eine Debatte, die nicht nur für die Zukunft der LINKEN überlebenswichtig ist, sondern nach dem Selbstverständnis der Partei auch für die zukünftige Gestaltung unserer Gesellschaft insgesamt wichtige Impulse geben kann und soll.

Wer diesen Anspruch ernst nimmt, sollte nicht bei der Freude über die Existenz des Entwurfs stehen bleiben, sondern sich im Rahmen der nunmehr eröffneten Debatte mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit in diesem Entwurf die für die Gestaltung der Zukunft entscheidenden Fragestellungen erkannt und stimmig gewichtet worden sind, und ob die dazu gegebenen Antworten nachvollzogen und von den Menschen als attraktive Angebote für die Gesellschaft von morgen angenommen werden können.

Der vorliegende Programmentwurf ist systematisch in drei Abschnitte unterteilt: Nachdem der erste Abschnitt (Kapitel I „Woher wir kommen, wer wir sind“ und Kapitel II „Krisen des Kapitalismus – Krisen der Zivilisation“) sich der Analyse der gegenwärtigen Verhältnisse widmet, folgen im zweiten Teil (Kapitel III „Demokratischer Sozialismus im 21. Jahrhundert“  und Kapitel IV „Linke Reformprojekte – Schritte gesellschaftlicher Umgestaltung“) die  programmatischen Ziele der Umgestaltung, bevor im Schlusskapitel („Gemeinsam für einen Politikwechsel und eine bessere Gesellschaft“) mögliche Wege dorthin aufgezeigt werden.
Im Mittelpunkt dieses Debattenbeitrags steht der programmatische Abschnitt des Entwurfs (Kapitel III und IV). In diesem Sinne geht es uns nicht darum, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit alle aus unserer Sicht richtigen Ausführungen im Programmentwurf zu unterstreichen oder jeden einzelnen Kritikpunkt zu Detailaspekten aufzulisten. Uns geht es um die grundsätzliche Linie des Entwurfs, um seine Kernaussagen und den „roten Faden“, der ihn durchzieht. Wir sind der Auffassung, dass der bisherige Entwurf zwar die richtigen Überschriften gesetzt hat, aber in den programmatischen Ausführungen wesentliche Aspekte unbeleuchtet lässt und insgesamt vor allem etwas nicht ist, das für ein Parteiprogramm von entscheidender Bedeutung ist - der Zukunft zugewandt.

So wird der Demokratische Sozialismus des 21. Jahrhunderts im Programmentwurf fast ausschließlich mit ökonomischen Determinanten beschrieben. Die darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen werden dagegen vernachlässigt oder allenfalls als Fußnote erwähnt. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als auch die in der vorhergehenden Analyse beschriebene Krise des sozialen Zusammenhalts und die Aushöhlung der Demokratie nahezu ausschließlich aus Krisen des Kapitalismus - und damit rein ökonomisch -  hergeleitet werden. Auch wenn die Beschreibung dieser Krisen des Kapitalismus in weiten Teilen sicher nicht völlig unzutreffend ist, so wird bei einer auf diesen Aspekt beschränkten Analyse doch außer Acht gelassen, dass diese Krisen nicht nur ökonomische Auswirkungen haben, sondern auch gesellschaftliche Aspekte wie Individualität, Partizipation, Kultur, Bewusstsein, Persönlichkeitsentwicklung, Medien usw. haben. Das Leitbild des demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts muss daher mehr als die Veränderung ökonomischer Rahmenbedingungen beschreiben; es muss auch aufzeigen, welche Chancen sich hieraus für Individualität, Partizipation, Kultur, Bewusstsein, Persönlichkeitsentwicklung, Medien usw. bieten.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine der größten gesellschaftlichen Veränderungen, die bereits im ausgehenden 20. Jahrhundert begonnen hat, spielt im demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts überhaupt keine Rolle – die digitale Welt. Die dadurch hervorgerufenen neuen Formen der Arbeitsprozesse und Arbeitsweisen, der Information und Kommunikation, aber auch der Partizipation, kommen im Programmentwurf nicht vor. Dabei könnte die digitale Welt – ohne die Risiken zu vernachlässigen – auch ganz neue Chancen bedeuten - wie die Möglichkeit zur individuellen Einflussnahme auf politische und wirtschaftliche Entscheidungen durch open data oder im Rahmen collaborativen Arbeitens. Auch wäre es zum Beispiel denkbar, Gesetzgebungsentwürfe nur dann zur abschließenden Behandlung im Parlament zuzulassen, wenn den Bürgerinnen und Bürgern zuvor Gelegenheit gegeben wurde, Vorschläge zur Veränderung oder Verbesserung zu unterbreiten. Der Programmentwurf zieht derartige Möglichkeiten überhaupt nicht in Betracht und bleibt statt dessen bei einer schlichten Ausweitung der Vertreterdemokratie des 20. Jahrhunderts stehen.

Auch sonst erweisen sich die im Programmentwurf unter der ambitionierten Überschrift Linke Reformprojekte beschriebenen Ansätze bei näherem Hinsehen eher als Reförmchen, die sich in Trippelschritten am aktuellen Tagesgeschehen orientieren und weniger an den Wegmarken einer gesellschaftlichen Umgestaltung hin zu einem demokratischen Sozialismus:

•    Sowohl unser Konzept der Bürgerversicherung als auch unsere Vorschläge zur Arbeitslosen- und Rentenversicherung gehen von einer paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus. Aus dem Blick gerät dabei die Tatsache, dass dies Selbstständige, deren Zahl bereits jetzt stetig zunimmt, in besonderer Weise belastet. Bei der Entwicklung eines der Zukunft zugewandten Reformprojekts müsste zumindest die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, diese Parität über eine Steuerfinanzierung mit einer höheren Unternehmensbesteuerung abzusichern.

•    Die Forderung nach einer „aktiven Arbeitsmarktpolitik, die sich in besonderem Maße für all diejenigen Menschen engagiert, die schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben“, erweckt den missverständlichen Eindruck, wir würden die derzeit von den rot-roten Landesregierungen in Berlin und Brandenburg praktizierten Modelle für einen öffentlichen Beschäftigungssektor ausweiten wollen. Diese Modelle sind jedoch lediglich Kompromisse, die den gegenwärtigen Rahmenbedingungen aufgrund bundesgesetzlicher Vorgaben geschuldet sind. Die Beschreibung eines der Zukunft zugewandten Reformprojekts sollte aber unser eigentliches Konzept für einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor sein. Danach sollte Arbeit, die zwar gesellschaftlich notwendig ist, aber nicht notwendigerweise in öffentlicher Trägerschaft angeboten werden muss, gesellschaftlich finanziert und kontrolliert werden.

•    884 Millionen Menschen weltweit haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Während die Vollversammlung der Vereinten Nationen das Recht auf sauberes Wasser als Menschenrecht anerkannt hat, spielt diese Frage im gesamten Programmentwurf keine Rolle. Ungeachtet der Tatsache, dass der fehlende Zugang zu Rohstoffen und natürlichen Ressourcen wesentliche Ursache für Kriege und Fluchtbewegungen ist, beschränkt sich der Programmentwurf hier auf abstrakte Formulierungen. Ein der Zukunft zugewandtes Reformprojekt sollte aber nicht darauf verzichten, auch konkrete Beispiele, wie das Angebot Ecuadors zu einem Verzicht auf die Ölförderung im Yasuni-Nationalpark (ITT-Initiative) gegen entsprechende Ausgleichszahlungen durch die internationale Gemeinschaft (wobei allein Deutschland 50 Mio. Euro zugesagt hat), aufzugreifen und als mögliche alternative Modelle einer internationalen Zusammenarbeit im Interesse einer fairen Nutzung bzw. Nicht-Nutzung natürlicher Ressourcen weiterzuentwickeln. Dies auch, weil es deutlich macht, dass internationale Solidarität mit der Bereitschaft verbunden sein muss, auf zusätzlichen materiellen Wohlstand zu verzichten.

Diese Beispiele ließen sich mit Sicherheit noch fortführen. Wir erheben weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch haben wir auf alle offenen Fragen schon ausgereifte Antworten. Wir sind aber der Meinung, dass es notwendig und sinnvoll ist, wenn sich möglichst viele Mitglieder aktiv in die Debatte über die Grundanlage des Parteiprogramms und dabei vorhandene Differenzen und Gemeinsamkeiten einbringen, bevor die redaktionelle Arbeit an einzelnen Formulierungen beginnt.

Berlin, den 31. August 2010

Jan Korte, Stefan Liebich, Raju Sharma, Halina Wawzyniak