Warum ein Alternativentwurf? – oder: Die Sehnsucht nach dem Meer

(Noch ein Beitrag zur Programmdebatte der LINKEN)
von Halina Wawzyniak und Raju Sharma

Im März 2010 hat die Programmkommission der LINKEN ihren Entwurf für ein Parteiprogramm vorgelegt. Oskar Lafontaine, einer der damaligen Parteivorsitzenden erklärte seinerzeit (und noch viele Male später), die Struktur dieses Entwurfs und die allermeisten seiner Inhalte würden am Ende der Programmdebatte aus gutem Grund Bestand haben. 10 Monate später ist die Programmdebatte in vollem Gange: Hunderte - überwiegend kritische, vielfach auch grundsätzliche - Wortmeldungen zum Entwurf und zum Verfahren, heftige und anhaltende Kontroversen im Parteivorstand der LINKEN geben wenig Grund anzunehmen, dass die Prognose des ehemaligen Parteivorsitzenden eintritt, gleiches gilt für den Wunsch seines Nachfolgers Klaus Ernst, das Programm -sollte möglichst mit einer Zustimmungsquote von 95 % der Mitgliedschaft verabschiedet werden.

Dass dies voraussichtlich bei dem jetzt vorliegenden Programmentwurf nicht so kommen wird, hat mehrere gewichtige Gründe. Da ist zum einem das Verfahren der Programmdebatte, das mittlerweile von Teilen der Partei und der Öffentlichkeit als „Anrühren von Zement“ wahrgenommen wird – möglicherweise auch deshalb, weil nicht nur der frühere Parteivorsitzende Oskar Lafontaine, sondern auch sein Nachfolger Klaus Ernst sowie Sahra Wagenknecht, eine seiner Stellvertreterinnen und Mitglied der Redaktionskommission, ungeachtet der hundertfachen Wortmeldungen zum Programm wiederholt öffentlich erklärt haben, ihnen seien keine „konkreten Reformvorschläge“ bekannt. Zum anderen weist der vorgelegte Entwurf zumindest folgende gravierenden Schwächen auf, die im Laufe der Diskussion zum großen Teil auch bereits sehr deutlich benannt worden sind:

  • So wie die Ursachen der Krise des Kapitalismus im Programmentwurf praktisch ausschließlich ökonomisch hergeleitet werden, wird auch der Demokratische Sozialismus des 21. Jahrhunderts fast ausschließlich mit ökonomischen Determinanten beschrieben. Die darüber hinausgehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Chancen für Veränderungen hinsichtlich von Individualität, Partizipation, Kultur, Bewusstsein, Persönlichkeitsentwicklung, Medien usw. werden vernachlässigt oder allenfalls als Fußnote erwähnt.
  • Besonders augenscheinlich wird dies an der Fixierung des Arbeitsbegriffs auf die vor allem im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte Form der Erwerbsarbeit im Sinne abhängiger Beschäftigung. Ausfluss dieser Fixierung, die weder als Abbild der gesellschaftlichen Realität noch alsLeitbild einer neuen Gesellschaft geeignet erscheint, ist auch die im Programmentwurfenthaltene Beibehaltung der Bismarckschen sozialen Sicherungssysteme des 19. Jahrhunderts.
  • Andererseits werden im Programmentwurf Politikansätze zum Umgang mit der Digitalisierung der Gesellschaft, zur Demokratisierung der Demokratie, zum wirksamen Schutz von Minderheiten, zum Verhältnis der Partei zu Kirchen und Religionsgemeinschaften,zur Ausbeutung des Südens durch den Norden usw., nur unzureichend beleuchtet bzw. unter komplex behandelt.
  • Schließlich teilt der Programmentwurf der LINKEN zwei Schwächen mit den Programmen der meisten Parteien in Deutschland: Erstens werden, übrigens anders als vom Parteiengesetz eigentlich vorgesehen, nicht Ziele (im Sinne eines gesellschaftlichen Leitbildes) beschrieben, sondern Maßnahmen (im Sinne möglicher Wege zu den – ungenannten – Zielen); und zweitens ist der Entwurf schlicht zu lang: Niemand – ob Parteimitglied, potentielle Wählerin oder Journalist – hat wirklich Lust, sich aus 90 (in der „Kurzfassung“ 60) oder mehr Seiten mühsam die Botschaften herauszusuchen, die eine Partei zu etwas Besonderem machen. Natürlich sollten Parteien auch konkret beschreiben, durch welche kurz- und mittelfristige Projekte sie ihre Ziele erreichen wollen. Aber genau das macht den Unterschied aus zwischen
    einem Wahlprogramm einerseits und einem Grundsatzprogramm andererseits.

Der vorliegende Alternativentwurf für ein Grundsatzprogramm der LINKEN verfolgt den Ansatz, die (vielen) gelungenen Passagen des Programmentwurfs zu nutzen und auf die wesentlichen Aussagen zu verdichten, die bisher geäußerte Kritik an bestimmten Inhalten des Programmentwurfs aufzugreifen, und den Entwurf auch in seiner Struktur zu dem zu machen, was Grundsatzprogramme von Parteien insgesamt sein sollten: Nämlich der Versuch, die für die Gestaltung der Zukunft entscheidenden Fragestellungen zu beschreiben und Antworten darauf zu geben, die von den Menschen nachvollzogen und als attraktive Angebote für die Gesellschaft von morgen angenommen werden können. Antoine de Saint-Exupéry, der Verfasser des „kleinen Prinzen“, schrieb einmal: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.“ Was die Programmdebatte der LINKEN braucht, sind weniger Haltelinien und mehr Sehnsucht nach dem weiten endlosen Meer.

Zum Programmentwurf >>>Download als pdf (145kb)