Freie Entscheidung des Einzelnen

Seit das Kölner Landgericht sein Beschneidungs-Urteil fällte, ist eine hitzige Debatte entbrannt – auch in der LINKEN. Kein Wunder, denn es geraten Grundhaltungen und wichtige Rechtsgüter in Konflikt: Religionsfreiheit, Elternrecht und das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Seit das Kölner Landgericht sein Beschneidungs-Urteil fällte, ist eine hitzige Debatte entbrannt – auch in der LINKEN. Kein Wunder, denn es geraten Grundhaltungen und wichtige Rechtsgüter in Konflikt: Religionsfreiheit, Elternrecht und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Raju Sharma und Christine Buchholz stehen für je einen Pol der Debatte.

Eines vorweg: Ich bin kein Beschneidungsgegner. Ich bin der festen Überzeugung, dass es gute Gründe gibt, aus denen Männer sich beschneiden lassen. Sich – nicht andere, und genau darum geht es.

Seitdem das Landgericht Köln in seinem Urteil vom 7. Mai 2012 festgestellt hat, dass die Beschneidung eines vierjährigen Jungen nicht nur eine tatbestandliche Körperverletzung, sondern auch rechtswidrig war, ist eine kontroverse öffentliche Debatte um das Thema »Knabenbeschneidungen« entbrannt. Die Beschneidung wurde auf Wunsch der muslimischen Eltern vorgenommen, ohne dass eine medizinische Indikation vorlag. Das Gericht ging davon aus, dass die Eltern mit ihrer Einwilligung den Eingriff nicht ausreichend legitimieren konnten. Ein eilig von der Bundesregierung vorgelegter Gesetzentwurf zur Legalisierung von Beschneidungen dürfte diese Debatte lange nicht beenden.

»Gesetzentwurf zur Legalisierung von Beschneidungen«? Ganz recht. Zu den großen Irrtümern, Missverständnissen und fehlerhaften Unterstellungen dieser Debatte gehört die Annahme, es gebe eine (womöglich aus antisemitischen oder islamophoben Motiven geführte) »Kampagne« für ein Beschneidungsverbot. Das Gegenteil ist richtig. Das Kölner Landgericht hat auf der Grundlage der bestehenden Gesetze für Recht erkannt, dass eine rein religiös motivierte Beschneidung von kleinen Jungs verboten ist. Weil es wegen dieser Einzelfallentscheidung öffentliche Proteste gab, hat sich eine Mehrheit des Bundestages im Rahmen einer Sondersitzung dafür ausgesprochen, die bestehenden Gesetze zu ändern, um die religiös motivierte Beschneidung zukünftig zu erlauben.

Aber kann ein Ritual verboten sein, das mehrere Jahrtausende alt ist und auch in Deutschland über viele Jahrzehnte ohne Einschreiten von Ordnungsbehörden offen und öffentlich praktiziert wurde?

Ja, das kann sein, und dies hängt zusammen mit einer Fortentwicklung des Rechts durch Gesetze und internationale Vereinbarungen, zu deren Einhaltung sich auch Deutschland verpflichtet hat.

Über lange Zeit herrschte in Deutschland eine extensive Auslegung des Elternrechts, die den Eltern eine sehr weitgehende Entscheidungsfreiheit in allen Angelegenheiten des Kindes einräumte und zum Beispiel auch das Recht auf körperliche Züchtigung umfasste. Erst schwere Kindesmisshandlungen stellten eine Grenze dar. Nach dieser Auslegung stand den Eltern unzweifelhaft auch das Recht zu, im Namen des Kindes in eine Beschneidung einzuwilligen. Mittlerweile hat sich jedoch ein anderes Rechtsverständnis durchgesetzt, das Kinder als eigenständige Träger von Rechten begreift.

Verankert wurde dieses Verständnis weltweit in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 und in Deutschland unter anderem konkretisiert mit der im Jahr 2000 von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion durchgesetzten Einfügung eines »Rechts auf gewaltfreie Erziehung« in Paragraph 1631 Absatz 2 BGB.

Vor diesem Hintergrund muss es nicht unbedingt verwundern, wenn sich die ehemalige Bundesjugendministerin Angela Merkel heute andere politische Prioritäten setzt. An ihrer Seite stehen in dieser Frage aber auch führende Funktionäre der LINKEN, unter anderem auch Mitglieder der Bundestagsfraktion, die noch in diesem Sommer einhellig einen Gesetzentwurf zur grundgesetzlichen Verankerung von Kinderrechten in den Bundestag eingebracht hat, damit »die Subjektstellung von Kindern und Jugendlichen als Träger eigener Rechte im Verhältnis zu den Eltern und zum Staat auch in systematischer Hinsicht klargestellt wird« (BT-Drs. 17/10118 vom 26. Juni 2012).

Das Dilemma ergibt sich hier durch die Kollision irdischer Gesetze mit religiösen Geboten. Diese waren bereits zu Beginn der öffentlichen Debatte um das Kölner Urteil als wichtige Bestandteile des Islams sowie des Judentums und insoweit zumindest von Vertretern jüdischer Verbände als »nicht verhandelbar« bezeichnet worden.

Diesen Konflikt gibt es zweifellos; ihn zu leugnen wäre ähnlich absurd wie die Behauptung, ein acht Tage alter Säugling würde bei einer Beschneidung keine Schmerzen empfinden. Doch was folgt daraus? DIE LINKE hat ihre Haltung bei derlei Konflikten in ihrem Erfurter Programm der LINKEN erfreulich klar beantwortet: »DIE LINKE verteidigt das Recht aller Menschen auf ein Bekenntnis zu einer Weltanschauung oder Religion. Sie tritt ein für den Schutz weltanschaulicher und religiöser Minderheiten«, heißt es dort, sie »achtet die Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre soziale Tätigkeit und ihre Unabhängigkeit. Allerdings müssen Grundrechte (…) auch in den Kirchen und Religionsgemeinschaften und in deren Einrichtungen Geltung haben.«

Das ist der Punkt: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die religiöse Überzeugung des mündigen Menschen zu respektieren und zu schützen ist. Doch für die Religionsfreiheit gilt, was für alle Freiheiten in einem demokratischen Rechtsstaat gilt: Sie ist nicht unbeschränkt. Beschneidungen von Kindern mögen bei entsprechender medizinischer Indikation dem Kindeswohl entsprechen; ein derartiger, nicht umkehrbarer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und das Selbstbestimmungsrecht eines jungen Menschen kann jedoch nicht allein mit den auf religiösen Traditionen begründeten Wünschen der Eltern gerechtfertigt werden.

Es geht um die freie Entscheidung des Einzelnen, das Persönlichkeitsrecht, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, um das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung – und ja, es geht auch um die Religionsfreiheit, die erst an Wert gewinnt, wenn Menschen sich aus freien Stücken auf Grundlage einer bewussten Entscheidung zu ihrem Glauben bekennen.